Journalismus

Der Lindy Hop erlebt ein Revival, und mit ihm die passende Mode wie Marlene-Hosen und Schiebermützen – auch abseits des Tanzsaals.

Die Tanzfläche ist eröffnet. Und mit einem Schlag voll. Nichts als strahlende Gesichter. Frauen in feinen Kleidern sausen an der Hand ihres Partners vor und zurück, als ob sie durch ein Gummiband miteinander verbunden wären. Aus den Boxen dröhnt Jazzmusik wie von einer Schellackplatte. Als quietschend ein Trompetensolo einsetzt, halten die Tänzer kurz inne, werfen lachend den Kopf in den Nacken und wirbeln dann weiter durch den Saal.

Nein, diese Szene spielt sich nicht in einem ruckelnden Schwarz-Weiß-Film ab, sondern live und in Farbe, vor den eigenen Augen. Zum Beispiel auf einer Party in Köln, Berlin oder Bielefeld. Der Swing ist zurück. Die Musikrichtung, die ihren Höhepunkt in den 30er Jahren in den USA hatte und so viele Menschen begeistert hat. Und mit ihr erlebt auch der Lindy Hop ein Revival. Schwarze Jugendliche tanzten ihn zum ersten Mal Ende der 20er Jahre in New York. Als der Pilot Charles Lindbergh damals den Atlantik überquerte, titelten die Zeitungen: „Lindy hops the Atlantic“. So, vermutet man, kam der Tanz zu seinem Namen. Was in den USA seinen Anfang nahm, schwappte auch nach Europa über und bekam in den 80er Jahren einen neuen Schub: die unbändige Freude am Swing, die sich meist in ausladenden Bewegungen ausdrückt. Arme, Beine, Hüfte, Po, Mund und Augen – alle sind beteiligt. Im Unterschied zu vielen Standardtänzen lebt Lindy Hop vom Improvisieren und vom Ausprobieren. Richtig ist vor allem, was Spaß macht und die Tanzpartner miteinander kommunizieren lässt. Grundfiguren gibt es trotzdem. Sie heißen Swingout, Texas Tommy oder Circle und werden von einem der beiden Tanzpartner, dem Leader, geführt. Der andere nennt sich Follower – folgt also möglichst. Feste Paare gibt es beim Lindy Hop nicht, auf Partys wird nach zwei oder drei Stücken gewechselt. Dabei finden oft auch gleichgeschlechtliche Tanzpartner zusammen. Je nach Können entwickeln Leader und Follower die Figuren gerne spontan weiter, bauen zusätzliche Drehungen oder Breaks ein und interpretieren die Musik so auf ihre Weise. Das ist mitreißend. Schon durchs Zuschauen.

Lindy-Hop-Begeisterte haben sich mittlerweile in vielen größeren Städten im In- und Ausland zu Vereinen oder losen Gruppen zusammengefunden, in Deutschland etwa unter dem Titel New Swing Generation (Hamburg), Swing and the City (München) oder Hopspot (Köln). Auch Tanzschulen sind auf die Welle aufgesprungen und bieten gut gelaunte Tänze aus der Swing-Ära, zum Beispiel auch Balboa oder Charleston, an. Bei mehrtägigen Treffen wie den Lindy Exchanges wird der kommunikative Gedanke des Lindy Hop besonders deutlich: Hobby-Tänzer aus ganz Deutschland und dem Ausland reisen dabei regelmäßig in eine fremde Stadt und finden Unterkunft bei Einheimischen. Auf Swing-Partys und bei Sightseeing-Touren lernt man während dieser Zeit Umgebung, Tanzstil und Lebensgefühl der Gastgeberstadt kennen und knüpft neue Kontakte. Die Münchner verbinden die Veranstaltung gerne mit einem Abstecher aufs Oktoberfest. Und in Köln standen im letzten Jahr unter anderem ein Besuch des Schokoladenmuseums und eine Swing-Parade durch die Fußgängerzone mit Halt auf der Domplatte auf dem Programm. Esther und Bernd Chrischilles von Hopspot, die den Lindy Exchange in der Rheinmetropole auf die Beine stellen, hatten beim zweiten Mal im Herbst 2012 immerhin schon 150 Tänzer zu Gast, darunter auch Leute aus der Schweiz, Frankreich und Kanada. Und die Szene wächst weiter – das zeigt zumindest die Resonanz auf die Einsteigerkurse bei Hopspot. „Etwa 20 Prozent der Anfänger entdecken den Tanz für sich und machen weiter“, sagt Bernd Chrischilles. Die Teilnehmer setzen sich aus ganz unterschiedlichen Altersgruppen zusammen, die meisten sind zwischen 20 und 55 Jahre alt.

Dass sich Menschen an der Musik und ebenso an der Mode und dem Design von gestern orientieren, ist charakteristisch für unsere Zeit. Wir nutzen Vintage-Foto-Apps, hören Roger Cicero und stellen uns Opas Ohrensessel ins Wohnzimmer. Das Zukunftsinstitut versteht dieses Retro-Verhalten als ein „kulturelles Durchschnaufen“, als Reaktion auf den turbulenten Wandel und die Kurzlebigkeit von Marken, Produkten, Technologien und Dienstleistungen. Die Vergangenheit ändert sich nicht, sie ist sicheres und vertrautes Terrain. Hierhin können wir uns zurückziehen, wenn sich die Welt mal wieder zu schnell dreht. Warum aber gerade Swing-Tänze wie Lindy Hop wieder in sind? „Vielleicht weil die Musik niemals uncool war – höchstens für eine Weile vergessen“, meint Bernd Chrischilles. Und im Gegensatz zu Standardtänzen braucht man beim Lindy Hop keinen festen Tanzpartner, das kommt vor allem Singles entgegen.

Hinter der Liebe zur Swing-Musik steckt häufig ein Lebensgefühl. Das zeigt sich zum Beispiel ganz konsequent im Kleidungsstil: bei den Frauen etwa durch Charlestonkleider oder Marlene-Hosen mit hohem Bund. Viele Männer tragen Schiebermütze, Weste oder Hosenträger, und das nicht nur auf der Tanzfläche. Die meisten dieser Eindrücke aus den 20er bis 40er Jahren bekommt man heute wohl in Herräng. Der kleine Ort in Schweden verwandelt sich jedes Jahr im Sommer zu einem Mekka für Swing-Begeisterte aus aller Welt. Hier nahm der Lindy Hop 1982 seinen Neuanfang in Europa. Mittlerweile zählt das Herräng Dance Camp nach Angaben der Veranstalter zu den größten Swing-Tanz-Camps weltweit. Fünf Wochen lang geben sich über 1.000 Teilnehmer hier gegenseitig die Tanzpartner in die Hand. Täglich finden bis zu vier Workshops bei internationalen Trainern statt. Am Abend setzt man das Gelernte bei den Partys um. Live-Bands und DJs spielen die Musik dazu. Hunderte von Lindy-Hop-Tänzern erkämpfen sich dann im Gedränge einen Platz auf dem Parkett. Und so mancher, der nach zahllosen Tänzen spätabends durch die helle schwedische Sommernacht nach Hause geht, hat noch den Gesang der Jazz-Legende Duke Ellington im Ohr: „It don’t mean a thing, if it ain’t got that swing“. Da könnte was dran sein.

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