Journalismus

09. Oktober 2019, Berlin. Morgens in einem Café in Berlin-Kreuzberg. Bodo Wartke hat schlecht geschlafen. Das sei vor Interviewterminen häufiger der Fall, sagt er. Angespannt sei er da manchmal. Vor Auftritten dagegen kaum. „Lampenfieber kenne ich nicht“, sagt der Klavierkabarettist. Und schon sind wir mitten im Thema: bei seiner Musik und bei der Freude am Improvisieren. Und die ist durchaus ansteckend. Der fürs Interview vorbereitete Fragenkatalog ist bald hinfällig. Bodo Wartke wirkt sehr konzentriert und nimmt sich Zeit für seine Antworten. Es arbeitet in ihm. Aber von Anspannung keine Spur. Ab und zu kommt er auf bereits angesprochene Themen zurück, zu denen ihm noch etwas eingefallen ist. Er spricht, wie er singt: mal unterhaltsam, mal nachdenklich, gerne mal um die Ecke gedacht.

Herr Wartke, fühlen Sie sich uneingeschränkt wohl auf der Bühne?
Auf jeden Fall. Die Bühne ist für mich Komfortzone. Ich finde es ganz wichtig, dass dort auch Fehler passieren dürfen, denn diese machen einen Auftritt ja erst lebendig. Mein Schauspiellehrer, bei dem ich vor Jahren in Paris Unterricht genommen habe, hat immer gesagt: » Schlechtsein ist der Normalzustand. « Das muss man erst einmal zulassen. Wer das aber nicht tut, bekommt zwangsläufig Lampenfieber – das ja für nichts weiter steht als für die Angst vorm Scheitern. Und ich finde, diese Angst ist gerade in Deutschland weit verbreitet.

Warum ist das so?
Was fehlt, ist eine gute Fehlerkultur. Dabei scheitern wir doch oft genug, ob im Alltag oder auf der Bühne. Wir könnten diese Kultur also häufig einüben. Aber sobald ich mich fürs Scheitern verurteile, nehme ich mir alle Freiheiten. Bezogen auf die Bühne nehme ich dem Publikum die Möglichkeit, mitzufühlen und Nähe zu empfinden. Denn Fehler machen wir ja alle. Manche dieser Fehler erlauben es mir sogar, eine Komik daraus zu entwickeln. Im Kontakt mit dem Publikum baue ich manchmal neue Texte in meine Lieder ein und spinne einen Gedanken weiter, der aus einem Fehler resultierte. Wenn es sich dann auch noch reimt, umso besser. Dann haben wir alle eine gute Zeit zusammen.

Sind diese Situationskomik und der unmittelbare Kontakt zum Publikum auch Gründe, warum man Sie eher live als im Fernsehen erlebt?
Ja, Fernsehen ist natürlich etwas völlig anderes. Da gibt es feste Abläufe und wenig Raum für Improvisation. Die besten Momente in der Interaktion zwischen Künstler und Publikum sind den Zuschauern vorm Bildschirm nur schwer zu vermitteln. Schon früh wusste ich, dass Fernsehen daher nicht mein Medium ist. Ich habe mich immer schon als Live-Künstler gesehen. Ich liebe es, in Gesichter zu schauen, wenn ich am Klavier sitze. Dann spiele ich gleich ganz anders als ohne Publikum. Das ist Kommunikation! Der eine reagiert auf den anderen und gibt diesem wiederum neue Impulse. Das ist ganz ähnlich wie beim Tanzen, vor allem beim Swing-Tanzen, das ich sehr mag: Auch hier zeigt sich, wie man selbst ist und wie zwei miteinander sind. Zwischen mir als Künstler und dem Publikum ist dieses Miteinander ein großes Geschenk.

Ganz am Anfang, wenn Ihre Lieder entstehen, sind Sie ja aber zunächst ganz allein mit sich und dem Klavier. Wie gehen Sie dabei vor?
Oft ist zuerst der Text da, zum Beispiel ein bestimmter Satz, eine kurze Sequenz, die an sich schon einen Rhythmus oder eine bestimmte Intonation hat. Das kennt jeder aus dem Alltag. Mein Lied „Ja, Schatz!“ ist ein gutes Beispiel. Da ist die Musik schon da, wenn man es ausspricht: Jaaa, Schatz! Ein langer, hoher, gefolgt von einem kürzeren, tieferen Ton. Solche Sätze lausche ich dem Leben ab. Selbstverständlich hat aber nicht jeder Text gleich Musikcharakter. Die Sätze und die Ideen dazu kommen, wenn sie wollen und wenn ich meine Antennen auf Empfang stelle. Das kann ich nicht planen. Ich kann mich also nicht morgens ans Klavier setzen und darauf warten. Grundsätzlich ist die Entstehung eines Songs ein Prozess, bei dem ich zunächst sehr allein mit mir sein muss. Wenn die Reime dann purzeln, ist das sehr erhebend, dann geht es mir so gut wie sonst nie. Dann entsteht das Stück fast wie von selbst. Ja – „es geschieht“, wenn man so will …

Passiert es auch, dass zuerst das Thema da ist?
Das kommt auch vor. Wenn es ein Thema ist, das mich umtreibt und über das ich singen möchte, muss ich mir zunächst über die Geschichte klar werden, die ich erzählen will. Und ich muss manchmal sehr tief graben, um Reime zu finden, die die gewünschte Aussage unterstreichen und die gleichzeitig originell sind. Das gelingt mir aber meistens. Sag mir, was du sagen willst, und ich sorge dafür, dass es sich reimt! Reime sind mir extrem wichtig. Sie musikalisieren unsere Sprache. Der Reiz besteht also am Ende darin, den gereimten Text und die Musik miteinander zu verbinden. Wenn das klappt, ist das immer ein Glücksgefühl für mich. Ein gesungener Text wirkt ja auch ganz anders als ein gelesener. Erst recht wenn er unterhaltsam auf einer Bühne vorgetragen wird.

Inzwischen gibt es sogar Software, die Lieder komponieren kann. Sind Sie bald arbeitslos?
Mir ist völlig unverständlich, was der Reiz daran sein soll. Technik hat keine Seele. Ich höre ja schon bei einem Klavierton, ob es sich um ein klassisches Klavier oder um ein E-Piano handelt – ob also mit einem Hammer eine Saite angeschlagen oder einfach nur auf Play gedrückt wird. Musik ist für mich immer mit einem guten Instrument verbunden und mit einem Menschen, der dieses Instrument zu bedienen versteht. Das kann keine Software übernehmen.

Worin genau liegt für Sie der Unterschied?
Wenn wir Technik nutzen, um ein Lied zu komponieren, hat das für mich etwas mit Funktionalität zu tun. Wir nutzen Maschinen als Hilfsmittel, um uns vor dem Scheitern zu bewahren – da haben wir es wieder! Maschinen können aber nicht positiv scheitern! Nicht in dem Sinne, wie ich es vorhin beschrieben habe. Und unabhängig vom Scheitern geht es selbstverständlich auch um Originalität und Qualität: Nehmen Sie einen Komponisten wie Mozart! Er hat Akkorde benutzt, auf die niemand sonst gekommen wäre. Wenn ich mir Stücke von ihm anhöre und mir dabei etwa auffällt, dass er die Septime in den Bass gesetzt hat, denke ich: Was für ein krasser Typ! Darauf muss man erst einmal kommen! Gute Komponisten tun also das, was vorher noch niemand getan hat. Und sie machen es auf ihre ganz eigene unverkennbare Weise – eben mit Seele und Lebendigkeit. Da kann jede Software einpacken!

„Stell dir vor, wir Menschen würden von nun an nur noch Dinge tun, die wir wirklich gerne tun!“ Davon singen Sie in einem Ihrer Lieder …
Auf das Lied werde ich häufig angesprochen. Mir haben schon Menschen erzählt, dass es ihnen einen wichtigen Impuls gegeben hat, ihr Leben komplett neu zu überdenken und zum Teil zu ändern. Das berührt mich sehr.

Was, meinen Sie, braucht es, damit man der Freude für eine Sache dann auch nachgeht?
Vor allem Zuversicht. Wir rechnen oft nicht damit, dass Dinge klappen. Kurioserweise leben wir aber in einem Land, in dem vieles sehr wohl klappt. Wir nehmen es aber als ganz selbstverständlich hin. Wir haben frisches Trinkwasser, wir haben zu essen, wir kommen mit dem Auto oder dem Zug schnell in eine andere Stadt … Oder nehmen wir als Beispiel die sogenannte Flüchtlingskrise. Da frage ich mich: Welche Krise?! Wenn es ein Land gibt, dass damit umgehen kann, dass mehr Menschen herkommen, dann jawohl dieses! Und ich glaube nicht, dass es irgendjemandem akut schlechter deswegen geht. Diese mangelnde Zuversicht, dieser Glaube, dass etwas nicht so recht klappen kann, tritt aber auch im Kleinen auf. Im Privaten oder im Beruf.

„Was, wenn doch?“, fragen Sie am Ende des Liedes …
Ja, weil ich denke, dass Dinge nur gelingen können, wenn wir auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass sie es könnten. Klingt eigentlich simpel, ist aber ganz entscheidend, finde ich. Sicher braucht es hier auch die Erfahrung, dass etwas mal tatsächlich klappt. Aber dazu muss ich mich auch der Sache stellen und es mal drauf ankommen lassen. Wenn ich Songs schreibe, brauche ich ja ebenfalls die Zuversicht, dass das, was ich mir da ausdenke, auch klappt. Aber ich muss selbstverständlich kein Künstler sein, um zuversichtlich zu sein und die Dinge zu gestalten.

Um diese Zuversicht zu entwickeln: Welche Rolle haben dabei andere Menschen in Ihrem Leben gespielt? Gab oder gibt es Vorbilder für Sie?
Der österreichische Liedermacher Georg Kreisler war und ist ein großes Vorbild für mich. Sein Wortwitz, seine Reimkunst und seine Musik beeindrucken mich sehr. Leider lebt er nicht mehr. Er hat mir immer gezeigt, dass Qualität möglich ist. Durch ihn habe ich gelernt, dass es sich lohnt, sich für jeden Reim anzustrengen. Aber auch Reinhard Mey bewundere ich sehr. Vor allem berühren mich seine Menschlichkeit und Aufrichtigkeit, die er in seinen Liedern transportiert. Und auch mein Klavierlehrer hat mich natürlich sehr geprägt und begeistert. Er war ein sehr humorvoller Mann, er hatte ein ungeheures Verständnis und auch eine große Liebe zur Musik. Die hat er an mich weitergegeben.

Und Ihre Freude am Spiel mit den Worten? Wann ging es damit los?
Ich war zehn, da habe ich angefangen Gedichte zu verfassen. Mit meiner Patentante habe ich mir damals Briefe hin und her geschrieben. Sie hat mir kleine Gedichte geschickt und ich hatte den Ehrgeiz, ihr ebenfalls in Reimen zu antworten. Bald ging es darum: Wer findet die originellsten Reime? Und wer die meisten? Und das nicht nur am Ende, sondern auch innerhalb eines Verses? Wir haben uns damit eine Art Wettbewerb geliefert.

Wann und wodurch war Ihnen klar, dass Sie Künstler werden würden? Gab es ein besonderes Erlebnis, an das Sie sich erinnern?
Es waren mehrere wichtige Erlebnisse, die mir gezeigt haben, dass ich auf die Bühne gehöre. Früher war ich eher der Typ Streber: relativ gut in der Schule, Brillenträger. Eigentlich war ich ein Lauch! Das haben mich meine Mitschüler auch spüren lassen. Einmal kam ich zu spät in den Konfirmandenunterricht. Alle Augen waren auf mich gerichtet, und ich habe gefragt: Darf ich noch mitspielen? Da haben alle gelacht – und ich habe gemerkt: Mit Humor kriege ich sie. Mein Talent habe ich also eher aus der Not heraus entwickelt. Einfach um klarzukommen mit mir selbst und mit meinem Umfeld. Und: Mit Humor hatte ich die Situation oft im Griff. Ich konnte sie gestalten. Das war auch eine wichtige Erfahrung.

Nach dem Abi haben Sie in Berlin aber zunächst Physik studiert …
Ja, kaum zu glauben, oder? Dass ich das mal ernsthaft vorhatte! Ich habe aber schnell gemerkt, das ist es nicht. 1996 habe ich beim Wettbewerb „Schüler machen Lieder“ gewonnen, das hat mich sehr ermutigt. An der damaligen Hochschule der Künste habe ich mich dann für Musik auf Lehramt eingeschrieben. Während des Studiums habe ich die „Scheinbar“ für mich entdeckt. Die existiert noch heute – ein kleines, aber recht bekanntes Kleinkunsttheater in Berlin-Schöneberg. Hier gab es schon damals das Open Stage Varieté: Jeder, der wollte, konnte sich sieben Minuten lang auf die Bühne stellen und seine Songs ausprobieren. Das habe ich getan und hatte direkt großen Spaß daran. Kurz darauf durfte ich eine Varieté-Show im Chamäleon-Theater moderieren und musikalisch begleiten. So ging das los … Wenn ich es so erzähle, wundere ich mich selbst, wie einfach der Start als Künstler für mich war. Kurze Zeit später konnte ich mit der Musik sogar schon meine Miete bezahlen!

Nicht schlecht. Und was haben Ihre Eltern dazu gesagt, dass Sie Musiker werden wollen?
Meine Eltern waren beide Ärzte. Sie fanden es ganz nett, dass ihr Sohn Klavier spielt. Aber das Künstlersein war ihnen total fremd. Ich glaube, es hatte irgendetwas Anrüchiges und Unseriöses für sie. Eine Zeitlang haben sie auch versucht, mich stattdessen fürs Medizinstudium zu begeistern und mir das mit der Musik auszureden. Ich habe aber bald verstanden, dass ihre Reaktion nichts über mich, sondern mehr etwas über sie selbst aussagt. Mein Vater war ein Skeptiker. „Was, wenn doch?“ Sich diese Frage zu stellen, hätte ihm vielleicht mal ganz gut getan …

Sie haben sich diese Frage gestellt – und sind Musiker geworden. War das denn nicht schwierig gegen den Widerstand der Eltern?
Ich war vor allem traurig, als ich gemerkt habe, dass meine Eltern nicht wirklich an mich glauben. Anfangs zumindest war das so. Aber es gab andere Menschen, die mich bestärkt haben. Meine Kommilitonen zum Beispiel und befreundete Künstler, die ich in Berlin kennengelernt habe. Es gab Menschen, deren Sätze mir noch im Kopf sind. Ganz früher zum Beispiel auch schon mein Mathelehrer, der, als es um meine Studien- und Berufswahl ging, einfach nur meinte: „Herr Wartke, lassen Sie sich Zeit, gucken Sie einfach mal, was Ihnen gefällt.“ Dieser banale Satz hat mich ungemein beruhigt. Er hat mir gezeigt, dass ich alle Freiheiten habe. Später irgendwann haben auch meine Eltern angefangen, zu respektieren und zu schätzen, was ich tue. Aber – ja, die Anfangsphase war schwer.

Wir haben vorhin über das Handwerk gesprochen: das Liedermachen. In welchen Momenten sind Sie noch besonders glücklich mit dem, was Sie als Künstler tun?
Es gibt Songs von mir, die unterhaltsam sind, die meist skurrile Alltäglichkeiten zum Inhalt haben und mit denen ich die Leute zum Lachen bringe. Das ist schon mal eine tolle Erfahrung. Aber besonders glücklich bin ich, wenn es mir gelingt, mich auszudrücken und damit womöglich etwas zu sublimieren. Wenn ich also feststelle, dass ich andere erreiche, denen es ähnlich geht. Vor sieben Jahren habe ich zum Beispiel ein Lied über meine Schwester geschrieben: Christine ist gestorben, als ich drei war. Lange Zeit habe ich behauptet, ich sei Einzelkind, wenn ich gefragt wurde, ob ich Geschwister habe. Irgendwann aber wurde mir klar: Das stimmt nicht, du hattest ja mal eine Schwester! Dieser Gedanke hat mich sehr getröstet und dafür gesorgt, dass ich mich nicht mehr allein gefühlt habe. Und ich konnte auf meine Weise um sie trauern – auch indem ich das Lied über sie geschrieben habe. Viele Menschen haben mich seitdem darauf angesprochen, weil sie eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Meine Musik schafft also eine Verbindung, das finde ich großartig.

Also ist Ihre Musik auch ein selbsttherapeutischer Akt für Sie?
In vielen Fällen ist sie das. Liebeskummer geht zum Beispiel auch immer gut. Etliche Stücke habe ich schon geschrieben, weil ich eine gescheiterte Beziehung irgendwie verarbeiten musste. Durchs Schreiben werden manche Probleme zwar nicht unbedingt kleiner, aber immerhin ist dabei am Ende dann ein guter Song herausgekommen. Das ist ja auch schon was!

Sie beschäftigen sich in Ihren Liedern aber auch mit gesellschaftlichen Themen wie religiösem Fanatismus oder mit dem Klima- und Umweltschutz. Und zusammen mit anderen Musikern haben Sie vor kurzem die ersten fünf Artikel des Grundgesetzes in Rap-Form gebracht. Inwiefern sehen Sie das als eine Aufgabe von Künstlern: dass sie Stellung beziehen und sich einmischen?
Ich finde, jeder Künstler sollte selbst entscheiden, ob und inwieweit er sich das zur Aufgabe macht. Was Künstler hier aber sehr wohl haben, ist das Potenzial: Durch ihre Bekanntheit können sie viele Menschen packen. Und das oft auf einer emotionalen und damit leichter zugänglicheren Ebene. Dass ich selbst als Künstler das tue, hat sich einfach so ergeben. Die Themen, über die ich singe, sind allesamt Themen, die mich beschäftigen oder mal beschäftigt haben. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich mittlerweile Vater bin. Da frage ich mich natürlich auch: Welche Welt möchte ich meinem Sohn einmal hinterlassen? Auch dass ich mit Anfang 40 jetzt in einem Alter bin, in dem vielleicht die Hälfte des Lebens schon vorbei ist, trägt dazu bei, dass ich mir manchmal etwas ernstere Gedanken mache als früher …

… und dass Sie diese Gedanken in Lieder verwandeln, die einem häufig nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Es ist mein Glück, dass ich dazu ein gewisses Talent habe – ja. Neulich habe ich mich mit einem Journalisten unterhalten, der für ein Magazin für Schwule schreibt. Er fand es gut, dass ich mich, gerade als heterosexueller Mann, in einem meiner Stücke mit Homophobie auseinandersetze. Das ist mir auch wichtig: dass sich Menschen, die womöglich keine Lobby haben, in meinen Texten wiederfinden und verstanden fühlen. Denn letztlich geht es um unser aller Vielfalt. Diese Vielfalt verhindern wir nur leider, indem wir uns immer wieder gegenseitig bekämpfen oder unterdrücken. Vielfalt ist auch die Wesensgrundlage für jede Form von Kunst.

Sicher auch für die klassische darstellende Kunst: Neben der Musik spielen Sie Theater. Mit „König Ödipus“ und „Antigone“ haben Sie zusammen mit Ihrer Bühnenpartnerin Melanie Haupt die Tragödien von Sophokles in eine neue, gewitzte Form gebracht. Nach meiner Schulzeit, aus der ich diese Stücke eher trocken in Erinnerung habe, würde ich sagen: Das geht nicht! Wie ging es Ihnen früher damit? Und was hat Ihnen gezeigt, dass es doch funktioniert – das man also einen antiken Stoff zugänglich machen kann?
So ging es uns doch allen in der Schule! Mich hat es im Deutschunterricht total gewurmt, dass diese Stücke so sperrig waren. Warum schreibt das keiner um?, habe ich mich gefragt. Und dann habe ich es einfach selbst gemacht. Ich habe also auch hier mal versucht, das Mögliche zu denken und es auszuprobieren, indem ich den antiken Stoff in eine klare, verständlichere Sprache gebracht habe. Und das hat erstaunlich gut funktioniert.

Was reizt Sie gerade an diesem Stoff?
Sophokles hat manche Dinge, die uns auch heute noch beschäftigen, glasklar auf den Punkt gebracht. Vieles, was er geschrieben hat, kann man geradezu als Querverweis auf unsere heutige Zeit lesen! Antigone zum Beispiel bestattet ihren aufrührerischen Bruder Polyneikos – und zwar gegen den Willen des Königs. Es geht also in dem Stück um ein hochaktuelles gesellschaftliches Thema: um den zivilen Ungehorsam. Ein Thema, das auch in unserem Grundgesetz verankert ist. Das Recht zum Widerstand wird hier benannt und damit zu einem wichtigen Teil unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung gemacht. Wie weit darf da der Einzelne gehen, wenn er seine Interessen wahren und seine Verantwortung als Mitglied dieser Gesellschaft erfüllen will? Und wie weit darf der Staat gehen, wenn er Gesetze erlässt, die die Grundwerte der Menschen berühren? Das sind fundamentale Menschheitsfragen, auf die Sophokles damals schon eingegangen ist.

Welche sind es bei „König Ödipus“?
Ödipus tötet ja unwissend seinen eigenen Vater. Später, als Belohnung dafür, dass er Theben von der Sphinx befreit, erhält er die Witwe des Königs und damit seine eigene Mutter zur Ehefrau. Bei dem Stück geht es im Kern um die Frage: Wie frei ist Ödipus eigentlich in seinen Entscheidungen? Und weiter gedacht: Wie frei sind wir als Menschen in dem, was wir tun? Wenn ich das Stück an Schulen aufführe, bin ich immer wieder beeindruckt, dass sehr viele Schüler diese Frage umtreibt – gerade wenn sie kurz vorm Abi stehen. Das kenne ich ja auch noch von früher. Ich diskutiere dann gerne intensiv mit ihnen. Am Ende geht es oft um die Erkenntnis: Wir werden alle sterben, aber der Weg dorthin ist gestaltbar. Wir haben die Freiheit, uns zu entscheiden. Dieses Thema hat Sophokles schon umgetrieben. Die Frage ist also: Halten wir es für möglich, dass die Dinge klappen können, und handeln wir auch danach? Das gleiche Thema, über das wir vorhin ja schon gesprochen haben – ich komme offenbar immer darauf zurück. Weil es mir einfach am Herzen liegt.

Wäre aus Ihnen vielleicht doch auch ein guter Lehrer geworden?
Das habe ich tatsächlich auch schon manchmal gedacht. Und ich wäre es durch mein Lehramtsstudium ja auch fast geworden. Die Themen, die ich mit den Sophokles-Stücken auf die Bühne bringe, hätte ich früher als Schüler selbst gern so präsentiert bekommen. Ein Freund von mir nennt das, was ich mit vielen meiner Stücke tue, „Bildung im Vorbeigehen“. Das trifft es vielleicht ganz gut. Ich kann also auch als Künstler etwas zur Bildung beitragen – und dabei gleichzeitig noch gut unterhalten.

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